Konstruktivistische Didaktik
im Hotel der Vielfalt
Einführung
Ich bin eine Träumerin und eine, die ihre Träume gerne umsetzt. Oft ist es mir gelungen und mache Umsetzungen lassen noch auf sich warten – bis die Zeit reif ist.
So saß ich auch heute frühmorgens auf meinem Balkon bei einem Kaffee und währenddessen ich meine Seele baumeln ließ, um mich meines täglichen Müßiggangs zu erfreuen, lächelte mich wieder einmal das Hotel schräg gegenüber an. Es ist innen frisch renoviert und steht verlassen – nichts regt sich darin – und plötzlich wurde es vor meinem inneren Auge zum Hotel der Vielfalt.
Nach einer Begriffsklärung die „Konstruktivistische Didaktik“ betreffend, erzähle ich über ihre Anwendung im Hotel der Vielfalt.
Konstruktivistische Didaktik
„Die Didaktik kümmert sich um die Frage, wer, was, von wem, wann, mit wem, wo, wie, womit und wozu lernen soll.“ (Jank u. Meyer 2002, S.16)1
„Die Konstruktivistische Didaktik versteht das Lernen als Prozess der Selbstorganisation des Wissens, das sich auf der Basis der Wirklichkeits- und Sinnkonstruktion jedes einzelnen lernenden Individuums vollzieht und damit relativ, individuell und unvorhersagbar ist.“
In ihrer Kernaussage wird deutlich, dass Lernen nichts von außen Machbares ist, das Außen kann nur dazu anregen, denn jeder vollzieht seinen Lernprozess für sich selbst. Lernende erschaffen im Lernprozess eine individuelle Repräsentation der Welt – was also jemand unter bestimmten Bedingungen lernt, hängt stark von dem Lernenden selbst und seinen Erfahrungen ab. Deshalb ist gute Beobachtungsgabe der Lehrenden notwendig, denn ein Abholen von dort, wo der jeweilige Lernende mit all seinem Wissen und seinen Erfahrungen steht, ist unumgänglich. Lehren ist, konstruktivistisch gesehen, ein ständiger Balanceakt zwischen Instruktion und Beobachtung der Konstruktionen – Wissensangebote, Deutungsangebote und Demonstrationen stehen in Balance zu Überprüfung und Reflexion der Aneignungsformen der Beteiligten.
Die Konstruktivistische Didaktik fordert ein respektvolles Eintreten für den „Eigen-Sinn“ des Einzelnen und die Wahrnehmung des Menschen in seiner Vielfältigkeit und individuellen Entwicklung – deshalb sind Differenzierung, individuelle Förderung und ein geduldiger Blick auf jeden einzelnen Lernenden und seine Möglichkeiten unumgänglich. Sie weist auf die Wichtigkeit der Beziehungsebene beim Lehren und Lernen hin und fordert eine reiche Gestaltung der Lernumgebung, die eine Vielfalt von Lehr- und Lernwegen ermöglicht.
Die Konstruktivistische Didaktik fordert die Stärkung der Verantwortung des Lernenden für sein eigenes Handeln und fordert auf, die vermeintlichen oder realen Zwänge der Lehrpläne nicht allzu ernst zu nehmen.
Im Hotel der Vielfalt
An der Rezeption empfange ich Menschen, die aus ihrem Land flüchten mussten. Sie alle haben einen langen, schmerz- und mühevollen Weg hinter sich. Ihre Ängste um ihre Existenz schwinden langsam, denn die Menschen in diesem Hotel der Vielfalt bieten Unterstützung und geben ihnen Hoffnung auf ein neues Leben in einem neuen Land. In der Eingangshalle hängt ein großes Schild, auf dem in allen Sprachen der Welt das steht, was allen Religionen gemeinsam ist: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.
Die Neuankömmlinge bekommen ihr Zimmer zugeteilt und können dort vorerst zur Ruhe kommen. Alle, in diesem Hotel, helfen einander und arbeiten zusammen. Sozialpädagog*innen und -arbeiter*innen, DaF-/DaZ-Trainer*innen, Restaurantleiter*in, Köch*innen, Kellner*innen, Hausdame, Butler, Zimmermädchen und Roomboys, Hauselektriker, Reinigungskraft und Zivildiener arbeiten dort freiwillig und nicht unbezahlt, obwohl ihre Arbeit unbezahlbar ist, weil sie alle mit ihrem Herzen dabei sind. Sie schätzen die anderssprachigen Menschen und lassen sie an ihrer Arbeit teilhaben, lassen sie beobachten, mitmachen und lernen. So können sich die Lernenden aus Situationen, Erlebnissen und Ereignissen heraus nicht nur ein Wissen kognitiv aneignen, sondern können zugleich den Sinn und Hintergrund eines solchen Wissens und Wissenserwerbs erlebend und situativ verstehen und reflektieren. (vgl. Reich, 2005)
Die Lernenden sind Beobachter*innen, Handelnde und Teilnehmer*innen. Viele, der Flüchtlinge haben in ihrem Land einen Beruf erlernt und jeder kann und darf das, was er am besten kann, beitragen. Sie sollen in dem gestärkt werden, was sie an positiven Potenzialen und Fähigkeiten in sich tragen.
„Man kann nicht nicht lernen“, sagte Rolf Arnold in einem Gespräch mit Winfried Kretschmer – warum sollte es dann nicht auch aus Eigeninteresse, Freude und Hilfsbereitschaft geschehen?
Neben dem Empfangsbereich und Restaurant ist ein großer Saal, in dem Feste gefeiert werden können und Deutsch gelernt wird, denn wer in einem fremden Land Fuß fassen will, muss dieser Sprache mächtig sein. Weil der Saal so groß ist, sind tagsüber von DaF-/DaZ-Trainer*innen besetzte Stationen errichtet – die Lernenden können frei über Zeiteinteilung, Reihenfolge der Stationen und Sozialformen entscheiden. Die Trainer*innen verstehen sich dabei als Lern-Begleiter*innen und Lern-Unterstützer*innen. Durch ihre gute Beobachtungsgabe, wissen sie, wo sie die Lernenden abholen müssen, um genau dort anzusetzen.
Sie führen die Lernenden behutsam zu Eigenverantwortlichkeit, damit die Lerner aktive Mitgestalter ihres eigenen Lernprozesses werden. Die Trainer*innen eröffnen den Lernern eine Vielfalt von Lehr- und Lernwegen und suchen immer wieder neue Wege, denn wir Menschen lernen nicht alle auf die gleiche Art und Weise. Sie denken vom Lernenden her und halten Darbietungen zu den Lernzielen, die gerade erwünscht bzw. gebraucht sind.
Zuvor erstellen sie einen Lernzielkatalog, der für die Lernenden frei zugänglich ist.
An einigen Wänden des großen Saals befinden sich Regale, in denen sich Materialien zum Deutschlernen befinden. Die Materialien sind ästhetisch wertvoll, damit sie anziehend wirken und sorgsam mit ihnen umgegangen wird. Sie fördern Aktivitäten, fordern zu Gesprächen, zum Lernen und/oder Spielen auf und können in Einzelarbeit, Partnerarbeit und/oder Gruppenarbeit verwendet werden. Einige regen u.a. zu freiem künstlerischen Ausdruck an und einige fordern zu Präsentationen auf. Alle Materialien haben eine integrierte Fehlerkontrolle, sodass die Lernenden ihre Fehler selbst entdecken und korrigieren können. Die Fehlerkontrolle ist ein entscheidendes Merkmal des unabhängigen und selbständigen Arbeitens. (vgl. Holstiege 1994, S 114)
Manchmal wird der Saal zu einem Theater, in dem die Lernenden ein kleines Theaterstück oder Tänze aus ihrem Land aufführen, manchmal wird er zu einem Kino, in dem vorher besprochene Filme gezeigt werden und manchmal wird er zu einem Ausstellungsraum, in dem alle entstandenen Werke der im Hotel wohnenden Menschen ausgestellt sind.
In meinem Traum wachsen alle Menschen im Hotel der Vielfalt zu einer Familie zusammen und dürfen so lange bleiben, solange sie wollen und gehen, wann immer sie wollen.
Meine Vision zeigt mir, dass diejenigen, die gegangen sind, weil sie einem Beruf nachgehen und sich selbst erhalten können, immer wieder für ein oder zwei Stunden zurückkehren, um bei Kaffee und Kuchen im Restaurant Freunde zu treffen und mitzuhelfen, andere in ihre Eigenständigkeit zu begleiten.
Ob dieser Traum wohl in Erfüllung geht? Ich weiß es nicht – er fühlt sich für mich jedoch sehr gut an und so hat er zumindest einen Zweck erfüllt, denn ich träume gerne schön!
Literaturverzeichnis Bücher:
Hildegard Holstiege, (19948), Modell Montessori, Grundsätze und aktuelle Geltung der Montessori-Pädagogik, Freiburg: Herder
Skriptum © Mag.a Bettina Brenneis, BFI Lehrgang DaF/DaZ 2017
Internet-Referenzen:
www.changeX.de (10.07.2007) Winfried Kretschmer, Selbst gelernt hält besser www.wikipedia.org (25.11.2018)
https://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktivistische_Didaktik www.uni-koeln.de (26.11.2018)
www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/reich_works/aufsatze/reich_48.pdf
(c) Mag. Doris Getreuer